Foundation history

Wer war Erich Böckler?

Ende der 2010er Jahre brachte die Sichtung der Dokumente, die im Archiv im Stiftungssitz in Bad Homburg aufbewahrt wurden, einen interessanten Karton ans Licht. Darin befanden sich Unterlagen für eine Selbstdarstellung Erich Böcklers, die er 1976 unter dem Titel „EB Wohin? Gedachtes und Gebautes für eine heile Welt“ publizierte. In zahlreichen fotografischen Aufnahmen stellte er darin seine seit den 1950er Jahren in West-Berlin und in Hessen entstandenen Bauten vor, die Hinweise auf den Ursprung des Stiftungsvermögens geben. Das Buch enthält auch eine Reihe von Texten, darunter ein ehrendes Gedenken an Heinrich Tessenow, bei dem Böckler in den 1920er Jahren an der Technischen Hochschule Berlin studiert hatte. Böcklers Tätigkeit in den Jahren 1933-1945 blieb in diesem Band jedoch unberührt; sie bildete, wie häufig in autobiographischen Äußerungen jener Generation, einen ‚weißen Fleck‘.

So stellte sich den heutigen Mitgliedern der Stiftung, die Erich Böckler größtenteils nicht mehr begegnet sind, die Frage: Wer war Erich Böckler – neben dem Förderer baltischer Kunstgeschichte, als den ihn einige in den 1980er Jahren noch erlebt hatten?

Perspektiven auf die Stiftungsgeschichte

Wie geht die Stiftung vor?
Für die Stiftung war das der Ausgangspunkt für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Biographie ihres Gründers. Sein Leben und sein Werk werden erforscht und im Kontext der Architekturdiskurse und Kulturpolitik der Jahrzehnte zwischen 1930 und 1980 verortet. Zwei Aufgaben stehen im Mittelpunkt: Zum einen wird ein Werkkatalog mit Böcklers Bauten erstellt. Zum anderen wird Böcklers Tätigkeit in der Zeit des Nationalsozialismus untersucht. Zudem wird die Geschichte seiner Familie und die seiner Frau Lisbeth Böckler, geborene Eglon, anhand von Quellen in estnischen Archiven und der familiären Überlieferung erforscht.
In bislang zwei Workshops (2022 und 2024) und der Konferenz „Vom NS-Planungsbüro zum Wiederaufbau. Architekten-Biographien zwischen 1930 und 1980“, die im Oktober 2023 am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) stattfand, wurden erste Ergebnisse vorgestellt und weitere Forschungsperspektiven diskutiert.

Was wissen wir bislang?
Erich Alfons Böckler wurde am 25. Januar 1904 in Tallinn / Reval, der Hauptstadt der russländischen Ostseeprovinz Estland als eines von elf Kindern einer deutsch-baltischen Kaufmannsfamilie geboren. Der Vater betrieb u.a. eine Farbenhandlung und eine Fabrik für Wagenschmiere. Die Unternehmungen gerieten im Ersten Weltkrieg in eine Krise. Diese Jahre verbrachte Erich als Schüler zeitweise in Petrograd (dem vorrevolutionären St. Petersburg) und in dem einige Kilometer südlich davon gelegenen Gatcina. Das Abitur legte er 1923 an einer Oberrealschule im nun selbständigen Estland ab. Im selben Jahr begann er ein Architekturstudium, zunächst in München und Wien, und ab 1925 an der Technischen Hochschule Berlin. Zu seinen Lehrern gehörte Heinrich Tessenow, dem er sich zeitlebens verbunden fühlte. Im Juli 1930 heiratete Böckler in Berlin Lisbeth Marie Eglon und er schloss sein Studium mit einem Diplom ab. Es war die Zeit der Weltwirtschaftskrise, von der die Bauwirtschaft in besonderem Maße betroffen war. Bis in die Mitte der 1930er Jahre fand Böckler nur kurzfristige Anstellungen, unterbrochen von Zeiten der Arbeitslosigkeit. 1931 erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft.

Wie viele Fachkollegen seiner Generation nutzte Böckler die Chancen, die sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten eröffneten. Er war ambitioniert, arbeitete an wissenschaftlichen Projekten und in der Redaktion der Deutschen Bauzeitung. Mit einer Anstellung im Berliner Baubüro der Deutschen Arbeitsfront (DAF) unter Julius Schulte-Frohlinde nahm seine Karriere 1936 Fahrt auf. Weitere Stationen bis 1944 waren das Büro des „Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt“ Albert Speer sowie die Fachgruppe Bauwesen im Nationalsozialistischen Bund Deutscher Technik (NSBDT).

Zentrale Aufgabe der Baubüros der DAF und der Fachgruppe Bauwesen des NSBDT war die Erarbeitung und Publikation von Haustypen für den „Wohnungsbau nach dem Krieg“, die sich an regionalen Bautraditionen orientieren und dadurch heimatliche Bindungen erzeugen sollten. Daneben war Böckler als selbständiger Planer tätig. Für Stralsund etwa erarbeitete er einen Generalbebauungs- und einen Wirtschaftsplan und er war vermutlich an Planungen für mehrgeschossige Wohnbauten an der von Speer geplanten Nord-Süd-Achse in Berlin beteiligt. Welche Projekte er darüber hinaus verfolgte, ist noch offen. Seit Mitte der 1930er Jahre beteiligte sich Böckler in zahlreichen Beiträgen an der zeitgenössischen Architekturdiskussion. Ein zentrales Thema war die „landschaftliche Bindung“ des Bauens im städtischen und ländlichen Raum. 1943 wurde er an der Technischen Hochschule Wien bei Siegfried Theiss und Erwin Ilz mit einer Arbeit promoviert, die im Kontext der nationalsozialistischen Raumplanung zur Kolonisierung der besetzten Gebiete des östlichen Europa zu verorten ist. Mitte 1944 holte Schulte-Frohlinde, mittlerweile Professor an der Technischen Hochschule München, Böckler als Assistenten an seinen Lehrstuhl. Böckler kündigte Anfang 1946 diese Stellung, um die Geschäftsführung der Vereinigung des Theodor-Fischer-Hauses in München zu übernehmen. In dieser Funktion sowie in zahlreichen Radiobeiträgen engagierte er sich in der Diskussion, die um Form und Zielstellung des Wiederaufbaus nach dem Krieg rang. 1949 war er Leiter der Internationalen Schau auf der Deutschen Bauausstellung in Nürnberg.

Um 1950 setzt Böcklers Karriere als praktizierender Architekt ein. Er war in bedeutendem Maße am Wiederaufbau von Berlin beteiligt, insbesondere im öffentlich geförderten, sozialen Wohnungsbau. In den 1960er Jahren arbeitete er vor allem im Raum Bad Homburg. Seine Bauten zeichnen sich durch ein hohes Maß an Funktionalität aus. Mit beschränkten finanziellen Mitteln bemühte er sich, eine anspruchsvolle Architektur zu schaffen.

Welche Forschungsperspektiven eröffnen sich?

Die Erarbeitung der Biografie Böcklers, die historisch-kritische Analyse seiner Schriften und die Auseinandersetzung mit seinem architektonischen Werk werden systematisch mit aktuellen Forschungsfragen zur Architektur des 20. Jahrhunderts verzahnt. Die bisherige Arbeit zeigt: in der Auseinandersetzung mit Böckler können neue Einsichten in grundlegende Prozesse gewonnen werden. Aktuell konzentrieren sich unsere Forschungen auf die Transformationsprozesse, die sich seit der Mitte der 1930er Jahre und über 1945 hinaus im architektonischen Feld vollzogen.

- Böckler konnte sich seit Mitte der 1930er Jahre schrittweise in der Planungsstruktur des „Dritten Reichs“ beruflich etablieren. Welche fachlichen Kompetenzen waren dabei gefragt, welche Kontakte hilfreich? In welcher Weise engagierte sich Böckler in diesen Institutionen und über diese hinaus? Wo traten Konflikte, etwa zu eigenen Ambitionen, auf? Was waren Impulse und Anlässe für berufliche Wechsel?
Ein Reihe der Büros, in denen Böckler tätig war, haben bereits wissenschaftliche Darstellung erfahren. Die Untersuchung des Werdegangs Böckler ermöglicht jedoch, spezifische Einblicke in das Funktionieren dieser Institutionen und damit des nationalsozialistischen Planungs- und Bauwesens zu erarbeiten: so etwa die Anforderungen an diese Institutionen, ihre informellen Strukturen, ihre personellen Verflechtungen und ihre latente Konkurrenz untereinander.

- Böcklers Tätigkeit als praktischer Architekt begann erst in den 1950er Jahren. In der Kriegswirtschaft des „Dritten Reichs“ war die Bautätigkeit auf ein Minimum reduziert worden. Die Planungsbüros und so auch Böckler waren stattdessen mit Projekten für die Zeit nach dem „Endsieg“ befasst und beschränkten sich auf theoretische Abhandlungen und Propaganda. Auf welche Weise sind also Böcklers berufliche Tätigkeit im Nationalsozialismus und seine Aktivitäten nach 1945 verbunden? Wie gelang es ihm, sich seit den 1950er Jahren in der Baupraxis zu etablieren? Inwieweit waren Kompetenzen, die er sich bis 1945 angeeignet hatte, und Netzwerke aus dieser Zeit hilfreich? Welcher neuen Kompetenzen bedurfte es, welche neuen Kontakte baute Böckler auf?

Die vergleichsweise gute Quellenlage erlaubt es, am Beispiel Böcklers grundlegende Fragen des Übergangs von der nationalsozialistischen Planungs- und Baupraxis in die Nachkriegszeit zu untersuchen:

> die Restrukturierung der fachlichen und überfachlichen Netzwerke,

> die Strategien, mit denen sich die Architekten an die neue politische und wirtschaftliche Situation sowie an die gewandelten gesellschaftlichen Forderungen anpassten,

> das Fortsetzen, Anpassen oder erzwungene Neuausrichten theoretischer Modelle und ästhetischer Vorstellungen und schließlich

> der Umgang mit den Erfahrungen des Nationalsozialismus.

Die kurz- und langfristige Rückwirkung des Nationalsozialismus auf die Nachkriegsentwicklung und deren Dynamik kann somit beschrieben werden.

- Böckler blieb zeitlebens der Geschichte und der Kultur des östlichen Europas verbunden. In der Zeit des Nationalsozialismus stellte er dieses Interesse in den Dienst der aggressiven nationalsozialistischen Eroberungspolitik. Wie greifen Böcklers Kenntnis und sein Interesse am Osten auf der einen und die nationalsozialistischen Planungen für die eroberten Gebiete im Osten auf der anderen Seite ineinander? Inwieweit reagierte Böckler, inwieweit war er Akteur und trieb die Planungen konzeptionell und propagandistisch mit voran? Wie verhalten sich diese Aktivitäten zu seinen späteren Bemühungen um eine Vermittlung der Kultur und Kunst der baltischen Länder?

Die Biografie Böcklers und die enge Verzahnung von persönlichen Voraussetzungen und zeitgenössischen Diskussionen ermöglichen es, den Wandel der Vorstellungen vom europäischen Osten in den deutschen Diskursen sowie seine Rückwirkungen auf institutionelles und individuelles Handeln nachzuzeichnen.

- Der letzte Fragenkomplex führt unmittelbar zu Böckler als Stiftungsgründer und zu den Motiven seines Engagements: Der Fokus der Stiftung auf die Ostseeregion unterschied sie von den übrigen deutsch-baltischen Institutionen im Nachkriegsdeutschland, die sich auf das „Baltikum“, das heißt die Regionen Estland, Livland und Kurland und ihre deutschbaltische Bevölkerung konzentrierten. Was waren die Gründe? Ist die Stiftungsgründung als eine Geste der Aufarbeitung zu verstehen? Inwiefern hat sich Böckler von traditionellen, auf Deutschtum fixierten Wahrnehmungen der baltischen Länder distanziert und den kolonialen Blick der Zeit des Nationalsozialismus auf das östliche Europa revidiert?

Nachlass Dr. Erich Böckler und Archivalien

Materialien und Informationen zu Erich Böckler finden sich in zahlreichen Archiven und Publikationen. Nachlässe finden sich im Herder-Institut Marburg und im Archiv der TU München.

Das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg verwahrt heute mit ca. 300 Graphiken und 4.000 Fotografien den größten Teil des Nachlasses von Dr. Erich Böckler. Besondere Bedeutung haben die historischen Graphiken zum Baltikum, etwa historische Landkarten und Stadtansichten, aber auch Künstlergraphik aus dem Zeitraum des 16. bis 20. Jahrhunderts. Ein Teil des Graphikbestandes ist digital erfasst und kann im elektronischen Bildkatalog des Herder-Instituts eingesehen werden. Ebenso sind Teile der Bibliothek von Dr. Erich Böckler an das Herder-Institut übergegangen.
Zum Graphikbestand

Der schriftliche Nachlass wird in der Dokumentesammlung des Herder-Instituts unter der Signatur "DSHI 100 Böckler" aufbewahrt.
Zu den Archivalien

Inventarisierung und Dokumentation der Bauwerke Erich Böcklers in West-Berlin

Das architektonische und städtebauliche Werk des späteren Stiftungsgründers Erich Böckler ist bislang nie systematisch erfasst worden. Ansätze zur Erstellung eines Werkverzeichnisses mit dem Schwerpunkt auf Böcklers Hauptwirkungsstätte West-Berlin fanden sich daher in den einschlägigen Publikationen der Zeit seines praktischen Wirkens (ca. 1950 bis 1974) sowie in Archivdatenbanken und insbesondere in Böcklers autobiographischem Werk “Wohin?” von 1976. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse wurden dann mit den im Stadtraum auffindbaren Bauwerken abgeglichen. Aktuelle Fotografien konnten auf diese Weise mit historischen Aufnahmen zusammengeführt werden. Wesentliche Grunddaten zu den Bauwerken (wie Baujahr, Bauherr, Adresse) sind ebenso wie eine Kurzbeschreibung der Architektur und etwaige Veränderungen in der Datenbank festgehalten. Auffällig ist das breite Wirkungsspektrum Böcklers, der mit fast allen Bauaufgaben der Nachkriegszeit in Berührung kam: Von der Instandsetzung kriegsbeschädigter Gebäude über den von ihm besonders intensiv betriebenen Entwurf im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus bis hin zu Errichtung repräsentativer Räume für staatliche Instanzen und den Bau von Sakralbauten. Insgesamt wurden ungefähr 180 Gebäude erfasst.
Auftragnehmer für dieses Werkverzeichnis waren die freiberuflichen Stadt- und Architekturforscher Eric Eigenbrod und Fabian Schmerbeck.